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Nach der Spätausgabe kehrte Ruhe ein. Die Familien schliefen, bei Ratte wie bei Korken. Alle schliefen, außer den beiden Gymnasiasten. Das Entscheidende war die völlige Geräuschlosigkeit, und die war nur zu schaffen durch äußerste Langsamkeit. Makellose Langsamkeit. Aufrichten im Bett. Entledigen des Schlafanzugs. Überstreifen der Klamotten. Je langsamer du bist, desto weniger Geräusche machst du. Zeitlupe bedeutet Stille. Keine Sekunde darf dich die Ungeduld überkommen, die Hoffnung, jetzt ein schneller Schritt, und du hättest eine Abkürzung genommen. Wie langsam musst du jede Tür öffnen, wie behutsam Schritt vor Schritt setzen! Wir müssen hier raus, aber mit langem Atem. Mit angehaltenem Atem. Unvorstellbar. Die Vorstellung, erwischt zu werden. Wo willst du hin? Um Himmels Willen? Würde Mutter sich sorgen, vor Vaters Wutausbruch. Die Wohnungstür durfte er nicht einfach zuziehen, hier musste der Schlüssel helfen, langsam, langsam. Dann war das Schlimmste überstanden, einmal tief Luft holen, auf leisen Sohlen hinunter durchs Treppenhaus mit den Stufen aus grau gemustertem Granit und dem glänzend roten Plastikhandlauf. Heute war Ratte an der Reihe. Was das Getränk anging. Wann würde der Alte bloß merken, dass immer wieder Flaschen aus dem Keller fehlten? Den Mosel in die Plastiktüte gesteckt, zum Recorder dazugepackt, aufs Fahrrad geschwungen, die letzten Trambahnen waren längst im Depot.
Die Welt war anders. Verblüffend, verwunschen, zur Unkenntlichkeit verwandelt. Die Straßen, Bürgersteige, Wege lagen dem späten und frühen Radler zu Füßen, still und zu Diensten, kirchenleise, nur der Kies unter den Reifen flüsterte frech. Die Laternen strahlten grellgelb gegen die Gespenster, deren Äste sich übers Trottoir beugten und müde über die Stahlzangenzäune am Rande der Pfade lungerten. Die Luft hatte aufgeklart, war erholt und erlöst von den krachenden Kisten, die jetzt leblos in den Parkbuchten verharrten. Die Stille sprang hin und zurück als selbsterschrockenes Echo zwischen den Wohnblocks links und den Kieselbetonbüros rechts der vierspurigen Straße. Dort drüben nun doch noch, ein einzelnes Fahrzeug, ein einzelner Fahrer, schlich langsam voran, aus Angst vor Fahrfehlern mit berauschten Sinnen, oder auf Suche nach heimlicher Erfüllung, vielleicht mit Blicken hinaus nach allen Seiten, ob irgendwo ein Wesen Nähe bieten wollte, in der Nacht gegen Bares. Ratte sog die Luft ein, legte den Kopf in den Nacken, sah über der Schlucht der Häuser das Leuchten der Sterne. Er liebte diese Luft, noch lau von der reichlichen Sonne des Tages, mit einer klaren und tiefen Tönung, die die Zeit des Lichts nie zu bieten vermochte. Die Lungen lebten auf, hier kam die Welt langsam zu sich, wurden die tausenden Lügen der wachen Stunden vertrieben wie hinterhältige Geister. Noch zweimal rechts abbiegen, kurzerhand quer über die Hügelwiese, dann war der Park erreicht.
Ratte sah Korken gegenüber des Eingangs, einige Dutzend Meter entfernt, er stand dort reglos und kerzengerade, den Kopf in den Nacken gelegt, starrte hinauf in die Weite des Alls. Ratte lehnte sein Fahrrad an den Maschendrahtzaun neben dem Eingang, zwängte das Kettenschloss durch die Drähte und um einen Pfosten, schob die Nummern auf viermal die neun. Er rief den Namen des Freundes, sie schlugen die Hände in der Luft gegeneinander, umarmten sich kurz und machten sich auf den Weg.
Es gab Geräusche, überall, ein Rascheln und Huschen und Knacksen, und doch lag ein Zauber von Ruhe über dem großen Garten. Schräg am Himmel hing ein halber Mond, der alles Geäst und Gewerk in schummrige Schatten legte, ein Licht aus Zurückhaltung, ein schwaches Schimmern, das jede Regung der Luft zu dämpfen schien. Die beiden schlenderten einen gewundenen Weg etwas abseits der breiten Kiespromenade, der Boden staubte unter ihren Füßen nach einigen Wochen ohne viel Regen. Die Enten am Rand des Baches schliefen, endlich einmal die Beine geknickt, die Bäuche am Boden, die Köpfe verkehrt. Die Bänke waren belegt, mal krümmte sich einer zusammen in mühsamem Schlaf, mal saß einer mit verschränkten Armen und ließ den Oberkörper schwingen, vor und zurück. Drüben am Sandkasten wickelten junge Männer Verkäufe ab, und mancher Busch am Wegesrand bebte und zitterte, als würden besondere Formen des Lebens in seinem Schutze gedeihen. Bald kamen sie an eine lichte Erhebung, auf der ein seltsames Gestell aus Stahlröhren angebracht war, wie übergroße Teppichklopfanlagen. Darunter saß wie jede Nacht ein halbes Dutzend Männer im Kreis, einige weitere standen um sie herum, gebeugt, geknickt, oder halb in der Hocke. Einer bemerkte die neuen Gäste, winkte ihnen zu und stolperte zu ihnen hin.Auszug aus der Erzählung “Weg” im Sammelband “Fremdkörper” (erscheint im Herbst 2023)
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