Halbblatts Havarien
Ein Mensch bekämpft den Alltag. Aber der Alltag gewinnt.
Die Adhoc-Leseseite wird fortgeschrieben. Unregelmäßig, aber gewiss. Gerne zum öfteren Reinschauen.
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Guten Morgen Dr. Halbblatt,
auf Ihrer Reise von Stuttgart Hbf nach München Hbf am 05.06.2024 um 14:51 gibt es aktuell einige Fahrplanänderungen:
Der Zug fährt heute abweichend nicht von Gleis 19, sondern von Gleis 15.
Die Abfahrt verzögert sich von 14:15 auf 14:51. Grund ist eine Verzögerung bei der Abfahrt.
Die Wagenreihung erfolgt in umgekehrter Wagenreihung.
Jetzt fährt er doch wieder von Gleis 19.
Der Zug fällt aus und wird durch einen anderen Zug mit der gleichen Zugnummer und der gleichen Abfahrtszeit ersetzt.
Die Platzreservierungen werden damit hinfällig, was aber keine Rolle spielt, da die Platznummern auf Grund einer Softwarestörung ohnehin nicht angezeigt werden können.
Außerdem haben wir gerade festgestellt, dass Ihre Reservierung im Bordbistro gewesen wäre, was ja irgendwie nicht wirklich sinnvoll ist.
Die Abfahrt verzögert sich nunmehr von 14:51 auf 15:41. Grund ist ein Zahlendreher bei der Abfahrt.
Bitte beachten Sie, dass zu allen Leistungen im Bordbistro ein Sockelbetrag von 58,50 Euro in Rechnung gestellt wird; dafür erhalten Sie zu unserem Kaffee einen kostenlosen Spuckbeutel.
Übrigens fährt der Zug jetzt von Gleis 7.
Die Abfahrtszeit verzögert sich auf 16:57, allerdings erst am Folgetag (06.06.2024).
Dafür jetzt von Gleis 11.
Vorsorglich möchten wir Sie noch darüber informieren, dass der Zug auch nicht nach München fährt, sondern nach Ludwigshafen.
Die Abfahrtszeit verschiebt sich auf 20:24, jetzt aber mit Bezug auf den Vortag (04.06.2024); mit anderen Worten, der Zug ist bereits gestern Abend losgefahren. Ursache der Verschiebung war diesmal ein Grund.
Hinweis: der Zug ist auch nicht von Stuttgart aus losgefahren, sondern von Saarbrücken.
Und zwar von Gleis 14.
Das spielt aber alles keine Rolle, da es sich ohnehin nicht um einen ICE gehandelt hat, sondern um einen Güterzug, der Rohrleitungssysteme von einem Stahlbetrieb in Saarbrücken zur BASF in Ludwigshafen gebracht hat. Vermutlich ist die Ladung bereits eingetroffen.
Das ist jetzt zugegebenermaßen echt blöd, falls Sie kein Rohrleitungssystem sind, das von Saarbrücken nach Ludwigshafen wollte, sondern ein Mensch (m/w/d), der von Stuttgart nach München will. Da können wir aber nun wirklich nichts machen.
Da einige der Verschiebungen auf Personalmangel zurückzuführen sind, wäre es hilfreich, wenn Sie, falls Sie einen ICE führen können oder sich dies als interessierter Laie zutrauen, sich umgehend bei unserer Human Relations bewerben würden. Dann könnten Sie vielleicht noch den Zug von Stuttgart nach München um 20:24 übernehmen.
Und zwar planmäßig von Gleis 19.
Die Zugbindung für Ihre gebuchte Verbindung ist hiermit aufgehoben. Bei einer erneuten Sitzplatzbuchung können Sie die Kosten für die nicht in Anspruch genommene, ursprüngliche Reservierung zur Erstattung einreichen. Alternativ können Sie sich formlos an das Servicecenter Fahrgastrechte in Frankfurt wenden.
Für alle eventuell entstandenen Unannehmlichkeiten bitten wir um Demut.
PS.: Da die Probleme in Wirklichkeit so Mgmt-Nummern sind, können Sie sich als interessierter Laie auch gerne um die Posten des Vorstands oder des Verkehrsministers bewerben.
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Der Stadtverordnete Halbblatt schlägt vor, im Zuge der Zukunftssicherung und Modernisierung der Stadt Parkplätze in Tiefgaragen mit QR-Codes zu versehen. Die Datenquadrate sollen großformatig entweder auf dem Boden der Stellfläche aufgebracht werden, oder an der Wand vor dem Stellplatz, so dass sie auch bei ruhendem Fahrzeug sichtbar sind, sofern sich dort eine Wand befindet.
»Gute Idee! Aber wozu?«
»Im Rahmen der umfassenden Digitalisierung. Wir haben es den Wählern versprochen. Die digitale Revolution wird von uns mit Kraft und Vehemenz vorangetrieben.«
»Verstehe ich. Aber was machen wir genau mit den QR-Codes?«
»Also. Um in einem Parkhaus sein Auto wiederzufinden, ist es sinnvoll, wenn nicht gar notwendig, die Plätze zu kennzeichnen. In der Vergangenheit haben sich dabei natürliche Zahlen als nützlich erwiesen, wobei es wichtig ist, dass die Vergabe der Nummern in aufsteigender Reihenfolge erfolgt. Wenn ich nun den QR-Code mit meinem Smartphone scanne, sehe ich auf einem Blick auf dem Display die jeweilige Nummer. Wir können auch gerne eine eigene Scannersoftware zum Download bereitstellen. Die Nummer auf dem Display sollte sich der Fahrzeughalter merken, denn sie dient zum Wiederauffinden des Fahrzeugs. Nach der Rückkehr vom Shoppen kann der User – als solchen werden wir künftig den Anwender des digitalen Parkhauses bezeichnen – irgendwo hinscannen, sieht die aktuellen Nummern der Stellplätze, an denen er gerade vorbeischlendert. Steigen die Zahlen an und ist die Nummer seines Parkplatzes höher, so muss er in dieser Richtung weitergehen, anderenfalls – gewissermaßen genau im Gegenteil – die Richtung wechseln. Ein ebenso kluges wie modernes Verfahren.«
»Klingt gut. Ich hätte da aber noch gewisse Bedenken. Was machen wir mit Menschen, die kein Handy besitzen. Oder sich weigern, eine Scannersoftware zu installieren, weil man, wie es heißt, nicht wisse, was der Staat damit alles kontrollieren könnte. Wir sollten auf jeden Fall für ein niedrigschwelliges Angebot sorgen. Barrierefreie Parkplätze, sozusagen.«
»Dafür sollte es eine Lösung geben. Wir könnten unterhalb des QR-Codes ganz klein die Nummer im analogen Klartext aufmalen.«
»Das klingt mir zu sehr nach Diskriminierung. Wir wollen schließlich keinen Shitstorm von Technikfeinden oder gar eine neue Anticoronabewegung. Ich finde, wir sollten die analoge Darstellung gleichberechtigt, das heißt in gleicher Größe, jeweils neben dem QR-Code anbringen. Hätte sogar den kleinen Vorteil, dass sich der User, wenn er es einmal sehr eilig hat, die ganze Scannerei sparen könnte.«
»Ja schon, aber. Gibt wieder neue Probleme. Es geht mir um den Datenschutz. Stellen Sie sich das einfach einmal vor; dass die Parkplatznummer riesengroß und für jeden sichtbar an der Wand prangt. Jeder dahergelaufene Passant und jede dahergelaufene Passantin sieht auf einem Blick, wo Sie Ihr Auto geparkt haben. Wo bleibt da der Schutz der Privatsphäre? Von den Möglichkeiten, die sich daraus für Autoknacker und Schieberbanden ergeben ganz zu schweigen – die wissen dann ja auch, wo Ihr Auto steht.«
»Nun – da gibt es doch noch einige Aspekte auszudiskutieren. Ich denke, wir müssen einen Ausschuss einberufen.«
»Jap. So machen wir das. Kantine?«
»Kantine!« -
„Welcher Schaden ist entstanden?“
Sprung in der Scheibe.
„Beschreibung des Unfallhergangs.“
Kieselstein hochgeschleudert.
„Wer hat den Schaden Ihrer Meinung nach verursacht?“
Eines von dem halben Dutzend Fahrzeuge, die zu diesem Zeitpunkt vor mir gefahren oder mir entgegen gekommen sind.
„Name und Anschrift des Unfallgegners?“
Eines von dem halben Dutzend Fahrzeuge, die zu diesem Zeitpunkt vor mir gefahren oder mir entgegen gekommen sind, deren Fahrer mir unbekannt sind und deren Kennzeichen ich mir auf die Schnelle nicht merken konnte, was aber auch nichts genutzt hätte, da eine Zuordnung der Schadensverursachung menschenunmöglich gewesen wäre.
„Ort des Unfalls?“
Pirmasens.
„Zulässige Höchstgeschwindigkeit am Ort des Unfalls?“
80 km/h
„Ihre Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls?“
(So leicht kriegt Ihr mich nicht: ) 79,5 km/h
„Ihre Führerscheinklasse?“
3
„Haben Sie vor dem Unfall Alkohol getrunken?“
Hmm … das wird jetzt knifflig. Immerhin … werden diese Fragen von Versicherungs-Juristen erdacht. Da heißt es vorsichtig sein. In den Bedingungen steht, dass unwahre Aussagen den Versicherer von der Leistungspflicht entbinden. Also aufgepasst! Wie leicht würde einem hier ein ‚nein‘ von der Tastatur gehen, ist aber möglicherweise eine Fangfrage, wenn nicht gar ein Falle. Habe ich vor dem Unfall Alkohol getrunken? Also gut! Die Wahrheit muss auf den Tisch, ungeschminkt und ohne Rücksicht! Ja! Ich gebe es zu! Ich habe vor dem Unfall Alkohol getrunken! Und zwar, ganz grob geschätzt, 3.000 Liter Wein, 2.000 Liter Bier, 100 Liter Sekt, 30 Liter Weinbrand und 10 Liter Whiskey. Vodka und Gin nur in Spurenelementen. In Summe, ebenfalls geschätzt, 1.500 Promille Blutalkoholgehalt. So – jetzt ist es raus. Ziehen Sie Ihre Schlüsse.
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Frau: »Ich nehme die Fruity Queen mit einer Kugel Eis. Was haben Sie denn für Sorten?«
Kellnerin: »Vanille, Schokolade, Erdbeere, Himbeere, Pfirsich-Maracuja, Zitrone und Pistazie.«
Frau: »Dann nehme ich Himbeere.«
Kellnerin: »Sehr gerne. Und der Herr?«
Halbblatt: »Also ich nehme ein gemischtes Eis. Zwei Kugeln. Was haben Sie denn für Sorten?«
Kellnerin: »Äh, nun, (Ahem, Räusper) … Wir haben Vanille, Schokolade, Erdbeere, Himbeere, Pfirsich-Maracuja, Zitrone und Pistazie.«
Halbblatt: »Gut, dann nehme ich Vanille und Stracciatella.« -
Mitten im Großstadtgetriebe des Samstagsnachmittags sind gestern 22 Personen Opfer eines technischen Zwischenfalls geworden. Die gut ausgelastete Rolltreppe von der U-Bahn-Station „Schlossplatz“ hinauf zum Schlossplatz blieb unvermittelt stehen. Zuerst dachten die Besucher an eine kurze Ruckelei, aber dann bewegte sich nichts mehr. Nach gut einer Minute sprach es einer der Gäste aus: „Mist! Steckengeblieben!“ Die meisten Mitfahrer waren besonnen, nur ein älteres Ehepaar begann sich heftig zu beschweren: „Ja, geht denn hier gar nix mehr?“
Bald zeigte sich, dass die Rolltreppen in der Stuttgarter Innenstadt tatsächlich einen gravierenden Sicherheitsmangel aufweisen. Während jeder Fahrstuhl selbstverständlich mit einem Notrufknopf ausgestattet ist, fehlt eine solche Vorrichtung bei sämtlichen von uns überprüften Treppen. Die Betroffenen wussten sich nun nicht anders zu helfen, als mit den Armen zu gestikulieren und um Hilfe zu rufen. Zum Glück erkannten einige Passanten oben auf dem Gehweg die Situation und verständigten mit ihren Handys die zuständigen städtischen Behörden.
Nach knapp einer Stunde war der Spuk vorbei. „Besonders übel“, berichtete einer der Steckengebliebenen, „war der eisige Wind, der die ganze Zeit durch den Aufgang von der U-Bahn pfiff.“ Ein anderer (zufällig übrigens Halbblatt) beschreibt seine Pein so: „Das Schlimmste war eigentlich, dass ich nur drei Stufen vom rettenden Trottoir entfernt war. Zum Greifen nahe! Ein Hohn!“
Die Stadt hat zugesagt, die Ausstattung der Rolltreppen mit Notrufknöpfen wohlwollend zu prüfen. Auf Grund der damit verbundenen Investitionskosten wird allerdings erwogen, die Nutzung der Treppen künftig mit einer geringen Gebühr zu belegen. Der zuständige Stadtkämmerer: „Wir dürfen hier nicht mit ideologischen Scheuklappen vorgehen. Auch eine Privatisierung der öffentlichen Rolltreppen sollten wir ins Auge fassen.“ Und Hand aufs Herz: wer einen Euro fürs Wasserlassen bezahlt, wird auch den Obolus für die maschinelle Auffahrt hinnehmen. -
Normalerweise ereignet sich morgens vor dem Frühstück auf dem Weg zum Bäckereifachgeschäft mit dem Ziel des Frühstücksbrötchenerwerbs wenig Spektakuläres.
»Halt, halt, halt! Schon falsch! So geht das nicht!«
»Wie bitte? Was ist denn jetzt wieder?«
»Das ist eine Tautologie! Normalerweise! Die normale Weise impliziert doch bereits, dass nichts Spektakuläres geschieht. Das spektakuläre Ereignis würde sofort den Normalfall aufheben und in einen höchst besonderen Fall versetzen. Genau wie umgekehrt das Spektakuläre seine Spektakularität zur Sekunde einbüßen müsste, da der Normalfall trotz des Eintretens des vorgeblich Spektakulären ein Normalfall bliebe.«
»Ja schon. Aber darum geht es doch nicht. Also nochmal von vorn.«
Meist ereignet sich morgens vor dem Frühstück auf dem Weg zum Bäckereifachgeschäft mit dem Ziel des Frühstücksbrötchenerwerbs wenig Spektakuläres. Jedoch ereignet sich morgens vor dem Frühstück auf dem Weg zum Bäckereifachgeschäft mit dem Ziel des Frühstücksbrötchenerwerbs fast immer zumindest irgendetwas. Etwas zu vermerken; vielleicht sogar zu erzählen. Später, beim Frühstück. Vielleicht hat sich durch eine zufällige Nachfrageballung eine fünfzehn Personen lange Schlange vor dem Ladenlokal gebildet, die bis zum Geldautomaten der vor Jahren stillgelegten Bankfiliale reicht, oder umgekehrt ist der Verkaufsraum so leergefegt, dass die drei Verkäuferinnen sich darum reißen, den verirrten Kunden zu bedienen. Vielleicht wankt leicht vornübergebeugt in der Ecke am Stehtisch der bärtige, etwas verwahrloste Kaffeetrinker, der jeden Kunden mit einer Spur zu offensiven Tonfalls in ein Gespräch zu verwickeln versucht. Oder man hat den Auftrag, ein Dinkel Dorle zu besorgen; man sieht noch einen Restposten von drei in der Gitterbox; der letzte Kunde vor einem krault sich nachdenklich am Kinn und entscheidet sich dann, dabei ohne jede Begeisterung, genau diese Überbleibsel zu erwerben; so dass man verzweifelt eingreifen und fragen möchte, ob ihm nicht auch deren zwei genügen mochten, es wäre so eine faire Aufteilung und allen gedient. All dies, wie gesagt, geschah nicht. Keine Verwechslungen bei der Auswahl der Gebäckware, keine Rechenfehler beim Ermitteln des Wechselgeldes, keine ruppigen Versuche des Vordrängelns: nichts davon! Selbst der Weg war einschneidend ereignislos. Keine Hupkonzerte wegen zugeparkter Auffahrten, kein vom Wind davongetragener Gelber Sack, der an der Schraube eines Straßenschildes hängengeblieben und aufgerissen wäre, so dass sich leere Käsepackungen und nicht mehr zuzuordnende faltige Folien übers Trottoir verteilt hätten. Kein Eichhörnchen lugt verschreckt auf Nasenhöhe hinter einem Baumstamm hervor, blickt Halbblatt zwanzig Sekunden in erstarrter Panik ins Gesicht, um dann in blitzschneller Hektik gen Wipfel zu entschwinden. Seht dort die Fußgängerin an der Ampel warten, den Blick starr aufs Handy gerichtet! Springt die Ampel auf Grün, ohne dass sie es bemerkt? Liest sie so gebannt die Kurzbotschaften, dass sie die Freigabe des Überwegs komplett versäumt? Nein, nicht einmal solch eine feine Kleinigkeit wird geboten!
Was soll man sagen, was mag man meinen? Hatte Halbblatt soeben den normalsten, durchschnittlichsten, gradlinigsten Brötchenkauf seines Lebens absolviert? Eine aufsehenerregende, atemberaubende Bemerkenswertlosigkeit? Wie man sich auch dreht und windet, wir stolpern hier über eine aufwühlend verblüffende Ereignisleere. Nennen wir es beim Namen! Sprechen wir getrost von Sensation! Eine einzigartige Verkettung von Auslassungen unüberbietbarer, rekordverdächtig spektakulärer Normalität!
Le monde entier est un cactus,
il est impossible de s’assoir.
Jacques Dutronc, 1966